Schreiben am Südrand der Schweiz

LITERATUR. Der Tessiner Schriftsteller Alberto Nessi (75) hat am 18. Februar den Grand Prix der Schweizer Literaturpreise für sein Lebenswerk erhalten. Es wurde auch langsam Zeit. Und es ist ein guter Zeitpunkt.

 

Die Debatte um die zweite Gotthardröhre ist vor der nahenden Abstimmung omnipräsent – und mit ihr die Frage, wie wichtig der Schweiz ihr italienischsprachiger Zipfel, das Tessin, ist. Der Tessiner Clown Dimitri ist gegen einen zusätzlichen Strassentunnel, ansonsten hört man aus dem Südkanton vor allem den Aufschrei: „Ohne zweite Röhre sind wir abgeschnitten!“ und die vorwurfsvolle Frage an die Alpennordseite: „Sind wir Euch den ganz egal? Habt Ihr uns vergessen?“

 

Auch der Tessiner Autor Alberto Nessi, aktueller Träger des Grandprix der Schweizer Literaturpreise, hat ein Leben lang gegen das Vergessen angeschrieben. Nebst seiner eigenen Lyrik, Prosa und Essayistik hat er als Herausgeber andere Tessiner Autoren veröffentlicht und eine Literaturgeschichte der italienischsprachigen Schweiz vorgelegt. So hat er den mit 40'000 Franken dotierten Preis doppelt verdient: für sein literarisches Werk und gemäss Bundesamt für Kultur (BAK) „als Persönlichkeit, die sich auf einzigartige Weise für die Schweizer Literatur einsetzt“.

 

Schuld und Sühne

 

„Das Schreiben entstand bei mir aus einer Verstümmelung, aus einer Schuld und einer Entdeckung“, schrieb Nessi 2014 in einem Essay in der NZZ. „Die Verstümmelung war der Tod des Vaters in meinem fünfzehnten Altersjahr; die Schuld betraf jene einfache Welt, welche ich verlassen hatte, um als Erster meiner Familie den Weg der höheren Bildung einzuschlagen; die Entdeckung bezog sich auf die Existenz einer Wirklichkeit parallel zur alltäglichen.“

 

Das Alltägliche weiss Nessi mit elektrisierender Poesie aufzuladen – eine Entdeckung auch für die Lesenden! Als Literaturwissenschaftler kehrte er aus Freiburg zurück ins Mendrisiotto, wo er lange Zeit als Lehrer wirkte, um die Poesie ins abgelegene Tag hineinzutragen, seine „Schuld“ abzutragen. Und immer wieder schrieb er über die Toten der Heimat, um die Vergangenheit vor dem Vergessen, der Verstümmelung zu bewahren: „Im leuchtenden Staub, der durch die Luke des Dachbodens tropfte, sah ich eine Milchstrasse aus Sonnenstaubkörnern. (...) Jene Staubkörner waren mein Grossvater, der mir einst seine Flucht vor den Geldeintreibern erzählte; mein Vater, vom Hunger zum Kartoffeldieb gemacht.“

 

Verdingt oder ausgeschafft

 

Wohnhaft in Bruzella, einem winzigen Ort am alleräussersten Südrand der Schweiz, bewegt sich dieser Autor immer am Rand des Lebens und rückt Menschen vom Rand der Gesellschaft ins Zentrum. Menschen wie Tosca, („Die Wohnwagenfrau“, 1998), ein Tessiner Mädchen, das sich in Zürich als Magd verdingt, um ihrem Traum, an der Oper zu singen, näher zu kommen. Menschen wie den aufmüpfigen Miló, der in den 1930er-Jahren nach Italien ausgeschafft wurde und sich dort zu den Partisanen schlug. „Miló“ heisst nach ihm der Erzählband, der aktuell im Zürcher Limmat Verlag erscheint. Darin kreist Nessi um jene karge Tessiner Gebirgsregion, wo früher Waren über die Grenze geschmuggelt wurden und heute Menschen – Flüchtlinge, "dazu bestimmt zu verdunsten wie ein Benzinfleck an der Sonne."

 

Tina Uhlmann

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0